Narzissmus und der Literaturbetrieb

Referent: Jan Drees, Literaturredakteur beim Deutschlandfunk

3. & 4. Tischgespräche-Runde (13:00-14:30 Uhr)

Narzissmus und der Literaturbetrieb

Von einer Narzissmus-Epidemie sprechen Fachleute, Feuilletonisten und Frauenzeitschriften-Schreiberinnen seit einigen Jahren. Gemeint ist damit, dass die anderthalb Dekaden des 21. Jahrhunderts erfasst worden sind von einer speziellen Lebensweise, von einer immer stärkeren Selbstsucht, mit der die Kälte in unsere Leben einzieht.

Es ist „Die Selbstsucht der anderen“, die unsere westliche Welt dauerhaft beschäftigt. Die New Yorker Essayistin Kristin Dombek hat unter eben diesem Titel – „Die Selbstsucht der anderen“ – einen Essay über Narzissmus veröffentlicht, und sie spricht über Karl Ove Knausgard, aber auch über die Pick-Up-Kultur der Bad Boyfriends, Reality-TV und über Anders Breivik, jenen norwegischen Massenmörder Anders Breivik, der am 22. Juli 2011 77 Menschen abgeschlachtet und dann nicht nur bei seiner Verhaftung gelächelt, sondern sich auch beklagt hat, wie traumatisch es für ihn gewesen ist, so viel Blut sehen zu müssen.

Und von dort aus steuert Kristin Dombek ins Herz der Narzissmus-Epidemie, wenn sie schreibt: „Klar, wenn man einen Mörder lächeln sieht, sollte man wegrennen. Wenn man aber das Pech hat, jemanden zu lieben, der ganz plötzlich derart mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint, dass ihm egal ist, ob und wen er damit verletzt, jemanden, der einem, kaum, dass er einen nicht direkt braucht, nicht mehr zugewendet ist, sondern schlicht weg, wenn man jemanden liebt, der so selbstverliebt oder innerlich verwundet ist, dass er auf Kritik mit Gewalt oder eisiger Wut reagiert, der sich vor deinen Augen in einen anderen Menschen verwandelt oder sich einfach abwendet, obwohl er gesagt hatte er sei für dich da – wenn man also jemanden liebt, der diese spezifische Selbstsucht des 21. Jahrhunderts in einer subtilen oder, noch schlimmer, unsichtbaren Ausprägung zu haben scheint, dann schaut mich sich höchstwahrscheinlich erstmal im Internet nach Hilfe um.

Dort erfährt man dann, dass der geliebte Mensch tatsächlich dieselbe Störung hat wie die Mörder, und zwar eine neue Selbstsucht, die sich vielleicht im Umfang, aber qualitativ nicht groß unterscheidet von der Selbstsucht jener Gestalten, die das verkörpern, was wir heutzutage meinen, wenn wir ‚böse‘ sagen.“ Eng mit dem Begriff des Narzissmus verbunden sind natürlich auch alle Szenen, in denen Menschen im Licht der Öffentlichkeit stehen – und dazu gehört natürlich auch ein spezifischer Teil des Literaturbetriebs. Vorurteil oder Wirklichkeit?

Darum soll es gehen bei dieser Tischrunde.

Jan Drees, geboren am 9. Mai 1979, studierte nach einem Volontariat in der Kommunikationsagentur BBDO die Fächer Neuere deutsche Literaturwissenschaften, Mediävistik und Kommunikationswissenschaften. In den vergangenen 15 Jahren arbeitete er als Rezensent, Kolumnist und Autor für Radio, Zeitungen und Zeitschriften, so u.a. für die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Der Freitag, Rolling Stone, BR, WDR 1LIVE, das Magazin “Bücher”. Er verantwortet den Literaturblog “Lesen mit Links”. Jan Drees ist bekannt für seine ausgezeichnete Vernetzung im klassischen wie im digitalen Literaturbetrieb sowie in den sozialen Medien. Er trat 2016, nach dem Ausscheiden von Denis Scheck aus der Literaturredaktion des Deutschlandfunks, neben dem langjährigen Literaturredakteur Hubert Winkels dessen Nachfolge an.

Foto © privat

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